Aleksandr Tarasov

Die Studenten Rußlands wurden nicht zum ersten Mal geschlagen, doch erstmals wird zugegeben, daß sie geschlagen wurden

 

Das Zusammenschlagen der Studentendemonstration in Ekaterinburg durch OMON wurde zum Thema Nr. 1 in unseren Masseninformationsmedien. Das Thema brachte das Fernsehen zum Rotieren. Pavel Luskanov überführte in seinem Hintergrund-Kommentar wütend die Machthaber, die „unsere Kinder“ schlügen.

Das alles ist seltsam. Seltsam, weil dies nicht der erste Fall ist und nicht der größte. Die ersten Studentenunruhen, das erste Verprügeln von Studenten durch OMON, hatten ihren Ort nicht im von Ostankino weit entfernten Ekaterinburg und nicht in den letzten Tagen, sondern im Zentrum Moskaus am 12. April 1994.

Es waren nicht weniger als zwei- bis dreitausend Studenten. Die Ereignis-se zogen sich anderthalb Stunden hin und umfaßten ein bedeutendes Terrain – vom Weißen Haus bis zum GUM (dort konnten sich etwa hundert Studenten nicht beherrschen und badeten in der Fontänenanlage eines „neuen Russen“, der es gewagt hatte, sie zu rügen). Verprügelt wurden 60 bis 80 Studenten, neun wurden verhaftet und am folgenden Tag dem Richter vorgeführt.

Viele Korrespondenten (darunter auch Fernsehreporter) waren bei dem Ereignis anwesend – sie wurden früh genug unterrichtet, da die Unruhen aus einer offiziell genehmigten Demonstration vor dem Weißen Haus erwuchsen, die von der Assoziation der gewerkschaftlichen Studentenorganisationen (APOS) veranstaltet wurde. Nachdem die Studenten entdeckten, daß die Behörden ihre gerechten und zudem bescheidenen Forderungen ignorierten, entschieden sie, zum Präsidenten – also zum Kreml’ – zu gehen, um ihr Anliegen dort vorzutragen. Doch folgten weder Artikel noch Fernsehreportagen darüber, wie OMON im Zentrum Moskaus „unsere Kinder“ schlug. Warum?

Genauso wenig bemerkten die vaterländischen Masseninformationsmedien die Wiederholung der Ereignisse nach genau einem Jahr, als wiederum am 12. April APOS vor dem Weißen Haus fünf Tausend Demonstranten versammelte, OMON abermals begann, die Studenten zu vertreiben, es wieder zum Massenzusammenstoß mit den ordnungsbewahrenden Organen kam, sogar zu noch größeren; diese gingen so weit, daß die Studenten auf dem Alten Arbat bis hin zu dem Gebäude des Verteidigungsministeriums laut auf sich aufmerksam machten, das Ministerium mit Steinen und Flaschen bewarfen, den Asphalt vor dem Ministerium mit Anti-Kriegs-Parolen beschrieben und sich danach wieder dem Kreml’ zuwandten. All dies dauerte drei Stunden. Drei Stunden lang jagten OMON-Leute 3 000 Studenten im Zentrum Moskaus (zwischen Neuem Arbat und Nikol’skaja Straße!), schlugen „unsere Kinder“ mit Stöcken und setzten Tränengas ein. Zwei Mitarbeitern der Miliz brachten die Studenten Kopfwunden bei, von einigen Autos der Miliz wurden die Scheiben kaputtgeschlagen. 200 Studenten trugen ihrerseits verschiedene Verletzungen davon, -zig wurden festgehalten, darunter 30 Menschen für 24 Stunden (danach wurden sie verurteilt).

Und wieder taten unsere ‘großen’ Masseninformationsmedien so, als ob nichts geschehen wäre und niemand geschlagen worden wäre. Erst einen halben Monat später druckte Moskovskij komsomolec einen Artikel von Ekaterina Golovackaja, in dem all das als „Randale Betrunkener“ bezeichnet wurde. Der Text war bemerkenswert: „Nachdem sie die Behörden beim Generalstab beschimpft hatten, gingen die Studenten sich die Köpfe an den Kreml’mauern einschlagen. Dort wurden sie schließlich auseinandergetrieben... Zwei Stunden schwankten sie durch Moskau, zerschlugen Glas, beschimpften und erschreckten Passanten...“ Hier haben Sie alles Mitgefühl mit „unseren Kindern“.

In der Nacht vom 19. auf den 20. Mai 1994 verübte OMON in Tver’ einen Überfall auf das Studentendorf der Tver’er Universität, in der oppositionell gestimmte Studenten traditionell den Tag der Geburt der Pionierorganisation feierten. Dort wurden die Studenten ernster geschlagen als in Moskau und erst recht als in Ekaterinburg. Gleichzeitig wurde viel von den OMON-Leuten zerstört. Nachdem sie gegangen waren, waren viele persönliche Sachen der Studenten „irgendwohin“ verschwunden. Ein junger Mann mußte in kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Und wieder – völliges Schweigen in den zentralen Masseninformations-medien und im Fernsehen. Von den örtlichen Medien wurde allerdings alles erklärt – als „Randale Betrunkener“. Nur, wenn man der Lokalpresse glaubt, randalierten nicht die OMON-Leute (die tatsächlich alle betrunken waren, wie sich die Zeugen erinnern), sondern die Studenten.

Und weiterhin gab es am 12. April 1995 eine nicht genehmigte Studenten-kundgebung in Irkutsk, an der 10 000 Menschen teilnahmen – ein Rekord für die Stadt. Dort kam es nicht zu Prügeleien. Die Studenten, die sich zum Gebäude der Gebietsadministration begeben hatten, wurden von allen Seiten von Milzionärkordons blockiert und lange damit erschreckt, daß man „eine Division“ herbeirufen und „alle erschießen“ würde. Beendet wurde die Kundgebung durch „friedliche Verhandlungen“ und Versprechungen der lokalen Administration, alle legalen Forderungen der Studenten zu erfüllen. Übrigens haben die lokalen Behörden die Studenten betrogen. Keine ihrer Forderungen wurde erfüllt, dafür gab es Unannehmlichkeiten für die Aktivisten des Marsches (gefunden wurden diese durch operative Videoaufnahmen).

Und wieder völliges Schweigen der ‘großen’ Masseninformationsmedien und eine Erzählung in den lokalen, Irkutsk’schen, über eine „Randale Betrunkener“.

Weitere Studentenunruhen (mit zerschlagenen Autofenstern, mit versperrten Straßen und dem Versuch, in die Bürgermeisterei einzudringen) gab es am 5. Mai 1997 in Krasnodar. Und wieder Schweigen in den ‘großen’ Masseninformationsmedien... Auch gab es einen nicht genehmigten studentischen Protestmarsch im Herbst 1997 in Novosibirsk...

Was hat sich jetzt geändert? Die zentralen Masseninformationsmedien berichten mit Gefühl über „unsere Kinder“, sollte das Gewissen der Journalisten erwacht sein?

Alles ist viel einfacher, banaler und zynischer. In Moskau oder in Tver’ verprügelte OMON oppositionell gestimmte Studenten, die „schlechte“ Parolen skandierten wie: „Tod den Bourgeois!“, „Kapitalismus ist Scheiße!“ und „El’cin ist ein Idiot!“ (es gab auch nicht druckbare Parolen – auch über El’cin). Doch in Ekaterinburg waren die Parolen ohne Biß, geradezu „kläglich“, wie: „Wir wollen lernen!“ In Moskau oder in Tver’ lehnten die Studenten sich gegen die Machthaber auf, aber in Ekaterinburg – gegen den Separatisten Rossel’, der in der journalistischen Welt nicht geliebt wird (zu Recht – Rossel’ hat öffentlich (es gab Fernsehaufnahmen davon) versprochen, „nicht richtig berichtende“ Journalisten in dem Gefängnis Matrosskaja tišina „umzuerziehen“).

Die größten Studentenunruhen der letzten Jahre waren die Unruhen in Moskau am 12. April 1995; sie waren von Linksradikalen geprägt und trugen einen offen gegen die Regierung, den Präsidenten und sogar gegen den Kapitalismus gerichteten Charakter, die Ereignisse in Ekaterinburg sehen daneben aus wie ein „einfaches Mißverständnis“. Schließlich und endlich war die Regierung 1994/95 besorgt, ein Image der Stabilität aufrecht zu erhalten, während es jetzt gar keine Regierung gibt – es gibt ein amtierendes Kabinett. Alles ist unsicher, unbestimmt, man kann intrigieren, Fische im trüben Wasser fischen.

Das ist keine Sorge um „unsere Kinder“. Das ist ein politisches Spiel. Die Begleichung von offenen Rechnungen mit Rossel’. Druck auf Kirienko. Ein Spiel darum, welche Politik der neue Innenminister vertreten wird (oder vielleicht gelingt es, ihn ganz auszuwechseln?), usw. usf. Die Studenten erwiesen sich als günstige Gelegenheit, eine Art „Wechselgeld“ in diesem Spiel. Hätte es dieses nicht gegeben, hätte man ein anderes gefunden.

Studentov v Rossii bili ne vpervye, no vpervye priznalis’, stchto b’jut, in: Uitel’skaja gazeta, 21. April 1998.